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Sylvi erzählt
...Wir waren glücklich, verstehen Sie. Sehr glücklich damals. Wir haben uns ergänzt. Andreas studierte. Wir hatten uns früh kennengelernt. Ich sagte immer: Lass Dir Zeit. Du musst
studieren. Er hat alles studiert: Philosophie, Psychologie, Theologie sogar.
Wirklich. Ich habe als Kindergärtnerin gearbeitet. Damit er in Ruhe studieren
konnte. Bin abends zur Abendschule gegangen ... nachher, weil ...
Er war ja so sehr überlegen. Irgendwann wollte ich alles nachholen. So haben wir es uns ausgemalt. Damit ich in seiner Nähe bleibe, hat er gesagt. Geistig, meine ich. Denn er hatte sich ja zu dieser Zeit schon ein Zimmer gemietet, in dem er für sich allein sein
konnte. Er brauchte das. Ruhe. Die Einsamkeit... für seine Studien. Wir haben
uns jeden Tag gesehen. Anfangs. Bei mir. Er besuchte mich dienstags, samstags
und sonntags. Seine Wohnung war für mich tabu. Ich musste das verstehen.
Obwohl...
Ich meine, es fiel mir schwer, das zu verstehen ... Und abends in der Abendschule konnte
ich mich oft nicht mehr konzentrieren. Viel gemeinsame Zeit blieb uns nicht.
Sonntags immer, natürlich. Aber dann gab es oft Streit. Ich hätte ihm keine
Vorwürfe machen dürfen. Auch nicht wegen des Mädchens, das er in seiner kleinen
Wohnung aufgenommen hatte. Sie war ja krank, hatte er mir gesagt. Er musste ihr
ja helfen. Sie konnte einfach nicht länger bei ihren Eltern bleiben, weil, ihre
Eltern waren ja die Krankheit.
Er hatte damals seine Fähigkeit entdeckt, andern zu helfen. Ja, das Mädchen war eigentlich sein erster Fall. Ich wurde verrückt vor Eifersucht. Verstehen Sie. Ich liebte ihn
ja. Er nannte das eine Affenliebe, die er mir abgewöhnen wollte. Aber ich
konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Weib bei ihm wohnt, während
ich...
Ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Ja, ich weiß heute, ich hätte ihn nicht zwingen sollen. Er sprach von Erpressung. Aber das sagte er, glaube ich, erst als das Kind
unterwegs war. ... Oder?
Oder nein, das war sogar noch später. Er hatte ja das Kind selber gewollt. Er hatte es mir erklärt: Wenn ich ein Kind hätte, würde ich sofort wieder normal sein, eine Frau braucht Kinder. Er hätte mich auch geheiratet, bestimmt...
Wenn nicht das Kind, ich meine, das andere Kind unterwegs gewesen wäre. Dorle, das Mädchen, verstehen Sie, war inzwischen auch schwanger. Sie war ja sehr krank. Psychisch. Und sie war von zuhause weg. Sie hatte niemand außer ihm. Natürlich musste er sich um sie
kümmern, nachdem das Kind unterwegs war. Es war ja auch sein Kind, dass sie ...
Diese...diese Schlamm....
Von Erpressung sprach er erst, als ich mein Kind nicht abtreiben lassen wollte. Aber er hat dann allesbezahlt.
Eine Spur?
„Drei Jahre habe ich mit denen, oder besser bei denen gewohnt. Andreas hatte im Schwarzwald das Haus gemietet, nachdem Dorle ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Ein Mädchen. Sie hat das Kind nicht angesehen. Andreas hatte ja vorher, während der Schwangerschaft, immer von einem Jungen gesprochen. Vielleicht wäre mein Kind ein Junge geworden. Andreas bat mich damals, dass ich mich um Dorles Kind kümmern soll.“
Dieses heruntergekommene Menschenkind hatte einmal ziemlich eng mit Gerner zusammengelebt. Ihre hündische Fixierung auf diesen Menschen erzeugte in mir eine Wut, dass ich sie am liebsten geohrfeigt hätte. Nachdem wir die Kognakflasche etwa dreiviertel
geleert hatten, kramte sie aus dem Kleiderschrank einen Schuhkarton mit Fotos
hervor, die ich mir anschauen musste. Ich war allmählich hundemüde. Aber ich
merkte, dass mich irgendetwas an Gerner zu faszinieren begann. Vielleicht war
es nur, weil ich sah, wie Sylvis dumpfe Augen noch einmal lebendig geworden
waren. Mit jedem Glas, mit jedem Satz über Gerner war sie munter geworden. Sie
schwelgte in Erinnerungen. Tausend Bilder mit Gerner: Gerner mit Hund, Kerner
beim Kahn fahren, beim Picknick auf einer Wiese. Sie lachte inzwischen und
sprudelte vor sich hin.
„Schau mal Raabe. Das bin ich. Das Bild hat er von mir gemacht. Aber das war erst nur ein Spaß. Ich musste mich in seinen Rollstuhl setzen, und er hat mich fotografiert. Immer wieder.
Das Merkwürdige war nur, dass ich allmählich tatsächlich eine Lähmung in den
Beinen und in der Hüfte spürte, während es ihm besser ging. Wir haben das wochen-,
ja monatelang hin und her analysiert. Je mehr wir darüber sprachen, umso
schlimmer wurde es. Er machte mir klar, dass meine Lähmung nur Einbildung war.
Er glaubte, ich wollte ihn durch mein neues Leiden strafen, ich wollte mich zum
Pflegefall machen, damit er sich dauernd mit mir beschäftigen müsste. Aber ich
spürte Schmerzen. Ich habe nächtelang geheult. Je mehr er mir meine
eingebildete Krankheit erklärte, umso besser ging es ihm selbst. Begreifst Du
das? Ich habe ein halbes Jahr in seinem Rollstuhl verbracht.
Danach drehte sich der Spieß wieder um. Ich konnte bald wieder laufen, und er saß wieder in seinem komfortablen Rollstuhl, von dem aus er den Gang der Welt kommentierte, seine
Umgebung kommandierte. Das Leid der Menschheit heilt,,,, indem er von Liebe
spricht. Er kann wunderbar von der Liebe sprechen. Du musst ihn hören. Du
spürst, wie in Dir etwas lebendig wird, wenn er über die Liebe spricht. Solange
Du ihn nicht gehört hast, hast Du nichts von ihm begriffen. ... Übrigens hier
auf dem Bild da: Da sitzt er in seinem Stuhl, umgeben von seinen Weibern.“
Sylvi hatte mir ein Foto in die Hand gedrückt: Er im Rollstuhl, umlagert von vier, nein fünf jungen Frauen. Kächler, der Hechler, hatte recht, ziemlich gerupfte Hühner allesamt. Der Raum
war rustikal eingerichtet. Wahrscheinlich ein Zimmer in einem Bauerhof.
„Nachdem ich endlich die Rollstuhlkrankheit überwunden hatte, konnte er mich nicht mehr um sich herum ertragen. Ich war nur noch manchmal am Wochenende bei ihnen zu Besuch. Das Bauernhaus seines Bruders irgendwo hinter Freudenstadt. Er hatte sich da eingenistet. Hielt seine Wochenendseminare dort ab. Dorle war schon nicht mehr dabei. Die war damals
schon gut ein halbes Jahr in einer Psychiatrischen Klinik. Im Hintergrund, der
mit dem Bart, das ist Johann. Johann Rehfuß. Unser Dichter. Wollte mal Lehrer
werden, hat aber sein Examen nicht geschafft. Er schrieb wunderbare Texte.
Immer sehr träumerisch und sehr traurig. Johann vergötterte Andreas. Alles, was
er zu Papier brachte, hat er solange mit Andreas diskutiert und durchgekaut,
bis er seinen Text freiwillig in den Papierkorb warf. Johanns Gedichte und
Kurzgeschichten wurden, glaube ich, nie älter als zwei, drei Wochen. Andreas
hat ihn später rausgeworfen, nachdem Johann einen ziemlich dilettantischen
Selbstmordversuch unternommen hat. Er war ein netter Kerl“
Am nächsten Morgen hatte ich nicht nur einen gehörigen Kater, sondern eine neue Adresse. Sylvi Bieger meinte, dass Rehfuß später Erzieher an einer Privatschule geworden sei. An
einem katholischen Internat in der Nähe von Osnabrück. Also wieder Bahnfahrt,
weiter rauf nach Norden. Irgendwann würde ich Gerner über die Liebe reden
hören.
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